
Der Thriller-Autor Marcus Johanus hat 2017 einen Artikel auf seinem Blog veröffentlicht, in dem es um Kurzgeschichten ging. Er ist einer der beiden Produzenten des Schreibdilettanten-Podcasts und als dreifacher Romanautor nicht ganz unbedarft, was die Schreiblehre angeht.
Der Beitrag ist leider nicht mehr online – wahrscheinlich ist er der Archivierung zum Opfer gefallen, denn auf Johanus‘ Website sind nur noch Beiträge seit 2018 zu sehen. Allerdings habe ich bei meiner Recherche einen Blogbeitrag von Frau Schreibseele gefunden, der sich auf den Artikel bezieht.
In seinem Blogbeitrag mit dem Titel „Widerstehe der Versuchung, Kurzgeschichten zu schreiben“ nennt Johanus einige Gründe, warum man als Autor keine Kurzgeschichten schreiben sollte, nämlich:
- Kurzgeschichten sind eine Form der Prokrastination
- Kurzgeschichten haben mit Romanen wenig zu tun
- Kurzgeschichten haben eine stark eingeschränkte Zielgruppe
- Mit Kurzgeschichten verbrennst du deinen Namen
Als ich den Beitrag zum ersten Mal gelesen habe, wollte ich sofort ein flammendes Gegenstück schreiben. Zu dem Zeitpunkt hatte ich gerade einige Kurzgeschichten geschrieben, hatte gerade meine erste Anthologie veröffentlicht und da kommt wer daher und behauptet ganz groß, dass man keine Kurzgeschichten schreiben soll? Und dann auch noch jemand, dessen Schreibratschläge ich sehr schätze? „Getroffene Hunde bellen,“ könnte man jetzt sagen – natürlich habe ich mich durch seine Worte angegriffen gefühlt.
Heute, mit etwas Abstand, schwingt in dem Beitrag allerdings auch eine Behauptung mit, an der ich Anstoß nehme: Nur ein Romanautor ist ein richtiger Autor und Kurzgeschichten zählen nicht. Schlimmer noch, mit Kurzgeschichten „verbrennt“ man seinen Namen. Wer Kurzgeschichten schreibt, wird von seinen Lesern nicht ernst genommen.
Es sei mal dahingestellt, ob Johanus das so auch aussagen wollte, oder ob ich das hinein interpretiert habe, weil es eine Narrative bestätigt hat, mit der ich immer wieder konfrontiert wurde und die ich selbst verinnerlicht hatte. Schließlich habe ich selbst lange damit gekämpft, mich als Autorin zu bezeichnen, weil ich ja „nur“ Kurzgeschichten geschrieben hatte. Und da der Beitrag nicht mehr online ist, ist es auch schwer nachzuvollziehen.
Allerdings hat auch Frau Schreibseele Anstoß an dem Beitrag genommen, Johanus‘ Argumente kommentiert und selbst einige Gründe aufgezählt, warum man eben doch Kurzgeschichten schreiben kann, darf oder sogar sollte:
- Kurzgeschichten liefern kleine Erfolgserlebnisse
- Kurzgeschichten bieten Ablenkung
- Kurzgeschichten können zu einem Roman ausgebaut werden
- Kurzgeschichten lassen sich einfacher abbrechen und löschen
Ich empfehle den Beitrag sehr, weil Frau Schreibseele den Originalbeitrag schlüssig und pointiert kommentiert. Aber auch hier schwingt die Argumentation mit, dass Kurzgeschichten nichts „Echtes“ sind. Dass man sie zu einem Roman ausbauen könnte, dass man damit etwas ausprobieren kann. Dass man sie schneller entsorgen kann, weil man nicht so sehr dran hängt.
Die Message ist: Kurzgeschichten sind Mittel zum Zweck, nicht Ziel an sich.
Kurzgeschichten haben generell keinen allzu hohen Stellenwert in Deutschland. Außerhalb des Deutschunterrichts wird man eher selten damit konfrontiert – in der TV-Zeitschrift vielleicht, in der man einen kurzen Krimi von einer halben Seite liest. Wo es im englischsprachigen Raum zahlreiche Podcasts und Magazine gibt, die sich auf Kurzgeschichten verschiedenster Genres spezialisieren, herrscht hierzulande eher Ebbe.
Aber, lasst es mich mal so formulieren: Das wird nicht besser, wenn sich Autoren untereinander die Form der Kurzgeschichte schlecht machen!
Eher im Gegenteil, oder? Schließlich sind Autoren auch Leser und wenn die Schreibratgeber davon abraten, Kurzgeschichten zu schreiben, wenn Kurzgeschichten als „gescheiterte Romanversuche“ dargestellt werden, dann ändert das auch nichts am Ansehen der Kurzgeschichte. Da wird nur in dieselbe Kerbe geschlagen und das Ganze wird zu einem Teufelskreis. Es schreibt niemand Kurzgeschichten, weil das ja nichts Richtiges ist, und dann gibt es auch zu wenig Kurzgeschichten, als dass sie Leser finden könnten und obendrein gehen die Leser auch mit einer schlechten Erwartung ran, weil Kurzgeschichten ja nichts Richtiges sind und sind enttäuscht, dass sie – oh Wunder – keinen Roman vor sich haben.
Eins sollte man festhalten: Kurzgeschichten und Romane haben fast nichts miteinander zu tun.
Sie sind anders aufgebaut, der Fokus liegt woanders, der Leser muss anders an das Thema herangeführt werden und auch das Schreiben an sich funktioniert anders. Wer eine Kurzgeschichte aus dem Ärmel schütteln kann, kommt mit der Methode bei einem Roman wahrscheinlich nicht weit. Nicht, dass ich da aus eigener Erfahrung sprechen würde, oder so *hust hust*.
Ich finde es also müßig, das Schreiben von Kurzgeschichten und Romanen miteinander zu vergleichen und am Ende beides irgendwie in Einklang bringen zu wollen. Ebenso müßig finde ich es, Gründe zu finden, warum man Kurzgeschichten schreiben darf oder sollte.
Es gibt zwei Gründe, Kurzgeschichten zu schreiben:
- weil man Lust darauf hat, und
- weil man eine kurze Geschichte in sich hat.
Oft bekomme ich das Feedback von Lesern, dass sie gerne mehr aus der Welt lesen würden, in die ich sie mit meinen Geschichten geschubst habe. Genauso oft würde ich selbst gern mehr erleben, mehr dazu schreiben. Natürlich habe ich für fast alle Konzepte auch größere Ideen ins Auge gefasst, bei einigen sogar fest geglaubt, sie könnten Romane werden. Doch der Stoff gab es nicht her. Tatsache ist: Alle Geschichten, die in meinen Anthologien sind, sind schon immer Kurzgeschichten gewesen.
Das klingt vielleicht seltsam, aber es gibt Geschichten, die sind auf Romanlänge ausgelegt, und manche sind von Anfang an nur Kurzgeschichten. Kurzgeschichten sind vor allem Denkanstöße, als ob man den Leser schnell in eine Situation wirft und genauso schnell wieder zurück holt und dieser dann mit der noch frischen Geschichte im Kopf die Parallelen selbst zieht. Es geht nicht darum, den Leser langsam in die Welt zu holen, die man gebaut hat, ihn einzuwickeln und am Ende alle offenen Fäden sauber und ordentlich zu verknoten.
Das heißt nicht, dass die Welt, in der die Kurzgeschichte spielt, nicht auch einen Roman hergeben kann, vielleicht sogar mit denselben Charakteren. Aber der Handlungsstrang der Kurzgeschichte wird nicht für einen Roman reichen, er muss ausgeschmückt werden, vielleicht ist er nur das Auslösende Moment oder ein anderer Handlungspunkt, vielleicht sogar nur irgendwo in der Nebenhandlung. Aber die Kurzgeschichte selbst ist immer eine Kurzgeschichte und ein Roman eben immer ein Roman.
Auch für Leser ist eine Kurzgeschichte etwas ganz anderes als ein Roman. Es ist nicht so schwer, sich Zeit für eine Kurzgeschichte zu nehmen, einfach, weil viel weniger Zeit nötig ist. Das Risiko ist geringer, denn wenn die Geschichte nicht gefällt, ist sie eben auch schnell vorbei. Sie verlangt dem Leser weniger mentale Verbindung ab: Wo man sich bei einem Roman über 400 Seiten Namen, Verwandtschaftsverhältnisse, Weltenbau und Zaubersysteme merken muss, fällt all das bei einer Kurzgeschichte weg.
Ich lese gerne Romane – aber auch gerne Kurzgeschichten.
Ich lese gerne Romane – aber aktuell ist mein Kopf mit so vielen Dingen gefüllt, dass ich froh bin über jede Geschichte, die ich an einem Abend lesen oder hören kann. Manchmal komme ich tage- oder wochenlang nicht zum Lesen und bin froh, mir nicht in Erinnerung rufen zu müssen, wer mit wem wann und warum einen Streit hatte, um der Handlung folgen zu können.
Ich stelle mal eine Frage in den Raum: Wie viele Leute kennt ihr, die nicht gern lesen, weil es ihnen in der Schule ausgetrieben wurde? Weil sie mit Romanen längst verstorbener Autoren konfrontiert wurden, die viel zu viel ihrer kostbaren Freizeit beansprucht haben? Und wie viele davon würden vielleicht Kurzgeschichten lesen, wenn sie welche kennen lernen und wenn sie wüssten, dass es ein ganz anderes Leseerlebnis ist?
Jede Geschichte ist eine Geschichte.
Kurzgeschichten sind eine völlig eigene Geschichtenform und wir sollten damit aufhören, sie zu rechtfertigen und im Zuge dessen zu entwerten. Eine Kurzgeschichte ist nicht nur gut, weil man damit ein neues Genre ausprobiert hat oder weil man so auf eine Romanidee gekommen ist.
Eine Kurzgeschichte ist gut, weil sie eine kurze Geschichte ist.
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