Seit Hänsel und Gretel die Hexe getötet und zurück in ihr Heimatdorf gekehrt sind, herrscht eine erleichterte Stimmung. Auch bei Paul und Lisa, die sich im Wald verlaufen haben. Denn wenn die Hexe tot ist, kann das Haus, vor dem sie stehen, unmöglich gefährlich sein. Oder doch?
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„Ich glaube nicht, dass Hänsel die Hexe in den Ofen geschubst hat.“
Die Baumrinde unter Lisas Händen fühlte sich rau an. Die Kälte machte ihre Haut anfälliger für die Splitter und Spitzen des Holzes. Hier unter der Tanne lag wenigstens kein Schnee und so hatten ihre Schuhe vielleicht die Möglichkeit ein wenig zu trocknen. Neben ihr stieß ihr Bruder Paul ein Lachen aus, das sich prompt in ein keuchendes Husten wandelte.
„Natürlich hat er das“, sagte er.
„Aber er war doch eingesperrt.“
Lisa rieb ihre kalten Hände aneinander. Paul tat es ihr nach. Sein Schal hatte in diesem Winter noch einige Löcher mehr bekommen.
„Er hat sich eben vorher befreit.“
Seit Hänsel und Gretel vor einigen Wochen wieder in das Dorf zurück gekehrt waren, gab es kein anderes Gesprächsthema mehr. Alle wussten, dass im Wald eine Hexe lebte, die sich immer mal wieder Kinder holte. Kinder, die im Wald nicht aufpassten, vom Weg abkamen oder nach Sonnenuntergang noch in der Dunkelheit herum stromerten. Die Kinder verschwanden spurlos. Wie Thomas damals.
Bislang war noch keines der Kinder zurück gekehrt.
„In jedem Fall ist die Hexe tot“, sagte Lisa schließlich beschwichtigend.
„Genau“, sagte Paul.
„Also ist das Haus leer.“
Sie starrten an dem Tannenstamm vorbei auf die Lichtung. Das Haus, das dort stand, war in den tollsten Farben bemalt und trotz des tiefen Winters lag auf der Wiese keine einzige Schneeflocke. Im Gegenteil, einige der Obststräuche schienen Früchte zu tragen. Keine zehn Meter von Lisa und Paul entfernt stand ein Rosenbusch in voller Blüte. Während die Bäume im Dorf alle Blätter verloren hatten und unter einer dicken Schneeschicht begraben waren, bewegten sich die grünen Baumkronen auf der Lichtung in einer leichten Brise.
Lisa fragte sich, ob es auf der Lichtung wärmer war als im Wald. Aber sie traute sich nicht, auch nur einen einzigen Schritt hinter der Tanne hervor zu treten.
„Genau“, sagte Paul wieder, aber auch er bewegte sich keinen Zentimeter.
Aus dem Schornstein des Hauses stieg Rauch auf.
„Da sind keine Pfefferkuchen“, sagte Lisa und versuchte dabei, mehr sich selbst zu beruhigen als ihren Bruder. Vielleicht war es gar nicht das Haus der Hexe?
Plötzlich öffnete sich die Tür des Hauses. Die Geschwister zuckten hinter den Tannenstamm zurück. Lisa hörte Pauls rasselnden Atem an ihrem Ohr und hoffte inständig, dass er jetzt keinen Hustenanfall bekommen würde. Innerlich begann sie zu zählen. Wenn sie bei Hundert ankam, würde sie einen Blick zurück auf die Lichtung wagen.

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Ich hatte ja schon immer den Verdacht, dass mit Hänsel und Gretel was nicht ganz stimmt. Heute würde man wohl fake news dazu sagen, dabei ist diese Storry quasi schon ein richtiger fake oldie. Und nach so langer Zeit der Irreführung hat sich endlich mal eine in den Märchenwald hineingetraut und die Geschichte zumindest ein bisschen wieder auf die Füße gestellt. Klingt doch jetzt alles gar nicht mehr so irreal gruselig und ist sehr viel einleuchtender, obwohl …?
Egal, es lassen sich so richtig keine Gegenargumente finden und so nehme ich für heute erstmal diese wirklich gelungene Version als gegeben.
Also Kinder aufgepasst, es war eigentlich alles ganz anders …