
Wenn es regnet, fliegen Bienen nicht. Beatrice wünscht sich, sie wäre auch eine Biene, denn dann müsste sie heute nicht raus. Aber manche Dinge nehmen ihren Lauf, den ewigen Kreislauf des Lebens.
Lesedauer: ca. 13 Minuten
Beatrice fehlte eine Socke.
Sie war sich nicht sicher, ob es die linke oder die rechte Socke war. Gab es überhaupt einen bestimmten Fuß, auf den so eine Socke musste? Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, dass sie immer mit dem linken Fuß anfangen musste. Das hieße ja aber, dass, wann immer eine Socke fehlte, der rechte Fuß unbesockt bleiben musste.
Das war doch unfair.
Ihr rechter Fuß konnte doch nichts dafür, dass er einfach immer als zweites dran war.
Beatrice blickte auf ihre Füße — einer mit Socke und der andere nackt — und dann nach draußen.
Der Himmel war dunkelgrau.
Ob sie wieder zurück ins Bett kriechen durfte, wenn sie ihre Socke nicht fand? Ihr geblümtes Bettzeug sah einladend aus, auch wenn sie heute morgen sehr lange damit verbracht hatte, das Bett ordentlich zu machen. Sie hatte auch sehr lange damit verbracht, jeden Knopf ihres Kleides noch einmal auf und zu zu knöpfen. Wenn sie nur lange genug braucht, musste sie vielleicht nicht mit in die Kirche, weil sie nicht fertig war, wenn es los ging.
Und jetzt, da ihr eine Socke fehlte, konnte sie sowieso nicht in die Kirche gehen. Dort musste man ordentlich aussehen. Auch das hatte ihre Mutter ihr beigebracht.
„Bee, Liebchen, was machst du da?“ Beatrices Oma stand in der Tür, die Hände in den Hüften. Sie war natürlich schon angezogen und — Beatrice blickte prüfend auf die Füße — hatte an beiden Beinen lange Seidenstrümpfe. Beatrice reckte ihr die Füße entgegen und Oma seufzte.
Kurz nachdem die Polizisten vor der Tür gestanden hatten, war Beatrices Mutter im Schlafzimmer verschwunden und seitdem nicht wieder heraus gekommen. Oma kam noch an dem Abend — sie kochte Beatrice Essen, zwang sie sich anzuziehen und schickte sie zum Spielen nach draußen in den Garten.
Beatrice musste jetzt nicht mehr in die Schule, deshalb hatte sie viel Zeit, um draußen im Garten zu spielen. Doch so ganz ohne Freunde machte das Spielen keinen Spaß.
Beatrices Mutter musste auch nicht auf Arbeit. Das hieß aber anscheinend nicht, dass Oma sie auch nach draußen in den Garten schickte.
Beatrice schaute an Oma vorbei auf die Zimmertür auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges. Sie war verschlossen und egal, wie oft Beatrice davor gestanden und geklopft hatte, sie hatte sich nicht geöffnet. Aber heute würde Mutter herauskommen, hatte Oma gesagt.
Heute war ein wichtiger Tag.

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