
Abree liebt Zahlen. Sie hat schließlich die Formel entwickelt, mit der jetzt landesweit darüber entschieden wird, welche Paare einen der begrenzten Nachwuchsplätze erhalten. Abree liebt auch ihren Job. So sehr, dass sie von ihrem Chef zwangfreigestellt werden musste, damit sie wenigstens einmal alle fünf Jahre in den Urlaub fährt. Natürlich passiert es ausgerechnet an ihrem letzten Arbeitstag, dass Abree zwei Akten mit demselben Eignungsfaktor vor sich liegen hat – und nur noch einen Platz frei.
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„Du hast also Urlaub?“
Abree musste gar nicht von den sorgfältig gestapelten Akten auf ihrem Tisch aufsehen um zu wissen, dass Tom an ihrem Türrahmen lehnte. Er hatte wahrscheinlich die Hände in den Hosentaschen und ein schiefes Grinsen auf den Lippen. Wie immer, wenn er nicht wusste, wie er mit ihr ein Gespräch anfangen sollte. Es war für andere nicht immer leicht, mit Abree klar zu kommen. Sie rechnete es ihm hoch an, dass er es immer wieder versuchte.
„Ja“, sagte sie langsam. Sie hob den Blick von der Akte. Dass sie recht gehabt hatte, gab ihr eine innere Genugtuung.
„Sechs Wochen. Ich bin schon ein bisschen neidisch. Fährst du weg?“
„Ans Meer. Meine Schwester hat mir etwas gebucht. Sie meinte, es würde mir gut tun.“
„Das Meer ist schön“, pflichtete Tom bei. „Ich war auch schon ein paar Mal da.“
Es war eine von Toms besten und schlechtesten Eigenschaften, dass er die Fakten immer in ein bestimmtes Licht drehen konnte. Sie wussten beide, dass Abree vom Chef zwangsfreigestellt wurde, nachdem sie sich auch in diesem Jahr geweigert hatte, Urlaub einzureichen. Tom hatte sie schließlich oft genug davor gewarnt.
So nannte Tom die Freistellung eben „Urlaub“ und Abrees Schwester hatte ihr ein Zimmer am Meer gebucht. Zwangserholung, sozusagen. Weg von den Zahlen, ein bisschen entspannen.
Aber Abree entspannte gerne mit Zahlen.
„Na gut. Ich muss jetzt los. Mach nicht mehr so lang.“ Tom winkte ihr zu und im nächsten Moment war er auf dem Gang verschwunden.
Mach nicht mehr so lang.
Abree hatte ihr Bestes getan, um den Tag noch etwas in die Länge zu ziehen. Sie hatte alle Akten aus ihrem Fach genommen und noch ein paar aus Toms geklaut. Er würde ihre Vertretung übernehmen, während sie weg war, doch sie traute ihm nicht ganz.
Tom betrieb eben eine „selektive Analyse“, wie er es nannte. Manchmal, da übersah er ein paar Daten für die Berechnung — ob nun absichtlich oder nicht. Abree tat das nicht. Für sie zählten alle Zahlen, Daten und Fakten. Sie war, so sagten alle, unbestechlich.
Doch so sehr sie auch den Tag in die Länge zu ziehen versucht hatte, auf ihrem To-Do-Stapel lagen nur noch zwei Akten …

Du willst wissen, wie es weiter geht?
Kann Abree beruhigt in ihren Urlaub gehen? Oder werden die beiden Akten ihr den Abschied schwer machen?
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